Stadt der Frauen: Im mexikanischen Juchitán regieren die Mütter. Manche ihrer Söhne verwandeln sie in schillernde Zwitterwesen.




Mädchen-Macherin Der Stolz der indianischen Mütter von Juchitán sind ihre Muschas, Mädchen in Knabenkörpern. Die Jungen, die sie zu Frauen erziehen, bleiben ein Leben lang bei ihnen.

Früher riss der Vater ihnen die Röcke vom Leib. "Sieh hin, Frau", schrie er, "es sind Jungen! Hör auf, sie zu Weibern zu machen!"



"Sie sind Mädchen in Knabenkörpern", bestimmte Antonia.



Sie hatte ihrem Mann gestattet ihr elf Kinder zu zeugen, vier Buben. drei Mädchen. Zwei Säuglinge starben. Und dann sind da noch José Angel und Vidal 14 und zwölf Jahre alt.



Die 37-jährige Antonia teilt mit José Angel und Vidal ihr Bett. Ein dürrer Mond scheint durchs Fenster. Bevor Antonia aufsteht küsst sie die beiden schlafenden Kinder. Antonia schlüpft in ihr kunstvoll verziertes Gewand, dann flicht sie im Dunkeln ihren Zopf und facht das Holzfeuer für den Kaffee an. In zwei Stunden wird Antonia ihm Mann wecken, der vor dem Haus zwischen den Mangobäumen in der Hängematte liegt. Sie wird ihn wie jeden Tag fortschicken, heute auf Leguanjagd.




Missbrauch oder Mutterliebe? Eine Muscha wie Mistica (r.) nabelt sich nicht von ihrer Mutter ab: Sie würde Mama niemals gegen einen Mann eintauschen.

"Mädchen rutschen aus der Frau, als könnten sie das Leben kaum erwarten", sagt Antonia, "aber die Schmerzen beim Gebären eines Jungen sind die größte Prüfung für eine Mutter." Als sie bei der Geburt von José Angel und Vidal keine Schmerzen spürte, war sich Antonia sicher, dass sie Mädchen in Knabengestalt zur Welt gebracht hatte.



Stumm stellt Antonia ihrem Mann und Louis, ihrem Ältesten, eine Tasse Kaffee und Tortillafladen hin. Mit ihren Steinschleudern verschwinden die zwei nach dem Frühstück in den Tamarindenwald vor Juchitán, wo der Pazifikwind die bunten Plastiktüten von der Mülldeponie wie raschelnde Blüten in die Wipfel treibt.



Antonia weckt José Angel und Vidal auf zapotekisch, der Indianersprache im Süden Mexikos: "Aufstehen, meine Lieben. ein neuer Tag!" Die zwei Junqen rücken ihre schmalen Körper noch einmal unter der Decke zusammen bevor sie strahlend aus der Hütte treten.



Im Städtchen Juchitán herrscht das Matriarchat. Wer die Männer an den Tresen der cantinas danach fragt, riskiert einen Haken unters Kinn. Wer aber die, Marktweiber in ihren zapotekischen Trachten vor den Obst- und Fischständen auf die Macht der Mütter anspricht, dem begegnet ein Grinsen. Der Handel ist fest in der Hand der Frauen. Sie verwalten die Finanzen. Geben ihren Männern Taschengeld. Sind stolz, dick, fruchtbar und furchtlos, kennen sich untereinander alle beim Vornamen und beäugen Fremde misstrauisch. Auf ihren Festen, der Taufe oder Hochzeit eines ihrer Kinder, schmiegen sie sich zum Tanz aneinander wie Liebespaare. Ganz besonders ausgelassen feiern sie bei der Geburt einer muscha, eines Mädchens im Knabenkörper. Denn ihre Töchter heiraten irgendwann und gehen aus dem Haus, die Söhne trinken und taugen nichts. Die muschas aber, ihre Geschöpfe gehören ihnen ganz, ein Leben lang. Und noch darüber hinaus: In die muschas so glauben sie, ziehen nach dem Tod ihre Seelen.




Mzuttertöchterchen Ihren Liebeslohn liefert die 1,80 Meter große Felicia bei ihrer Mutter ab. Wenn sie frühmorgens heimkommt, kriecht sie in ihr Bett.

Felicia ist eine muscha . Ihre Pfennigabsätze drohen unter ihrem einen Meter 80 großen und 160 Pfund schweren Körper zu zerbrechen. Spaghettiträger über den breiten Schultern halten ihr dünnes Kleid. Die 25-jährige Mann-Frau ist schlecht rasiert, ihre Lippen hat sie leuchtend rot geschminkt.



Auf der Straße stinkt es nach totem Tier, Felicitas Parfüm riecht nach Flieder. Sie schiebt die Hüften beim Gehen nach rechts und links, läuft in der Straßenmitte im Zickzack einer Nähmaschine. Als ein Mann auf einem Bierwagen pfeift, wirft sie nur den Kopf zurück "Er hat mir das Jungfrausein genommen, als ich elf war", sagt Felicia. Gegen ihren Willen. Und doch bezeichnet sie ihren Vergewaltiger mit einem schönen Wort: "Mein Verlobter."' Felicia hat viele Verlobte.



Mit übereinander geschlagenen Beinen sitzt Felicia in Antonias offener Küche. In der Hand hält sie eine Einladungskarte für das Hochzeitsfest von Antonias Ältestem. In zwei Wochen soll Louis, der Analphabet, heiraten. Ihre Mutter hat Felicia geschickt, um einen Leguan zu kaufen. Während sie wartet, bis Antonia das Tier ausgenommen hat, fragt sie: "Vidal, José Angel, besitzt ihr noch eure Unschuld?" Die Kinder kichern. Antonia, zwei Finger im Bauch des Leguans, antwortet lakonisch: "Ja." Vorsichtshalber hat Antonia ihre Kinder aus der Schule genommen. Da waren sie nicht mehr sicher vor der Gier der älteren Schüler.




Busen auf Pump Marie José spritzt sich Maisöl. Die meisten Muschas kleiden und schminken sich nur wie Frauen, Operationen lehnen sie ab.

Später werden Vidal und José Angel erzählen, wie sie die Blicke der anderen Jungen und Männer auf dem Markt spüren und die Dunkelheit meiden.



Niemand hat sie je gezählt, die Mädchen in Männernkörpern in Juchitán. Sie besitzen Friseursalons oder nähen Kleider. Sie sind lustig und oft ein wenig schlüpfrig, verbreiten gute Laune, bringen Glück, und manche von ihnen sind für Geld zu haben. Es gab sie immer hier, sagen die Alten, schon bevor die Spanier kamen. Es heißt, die mexikanischen Kriegsherren wären vor einer Schlacht stets nach Juchitán gereist, um muschas zu rekrutieren. Wegen ihres Waffengeschicks. Weil sie devot sind. Und duldsam.



Der Bürgermeister der 80 000-Einwohnerstadt, ein pausbäckiger Mann mit gelöstem Krawattenknoten, der am Montagmorgen eine schnapsige Wochenendfahne mit ins Büro bringt, meint: Schwer zu zählen. Wenn sie älter werden. verschwinden sie von den Straßen. Aber im siebten Bezirk, wo die Zapteken wohnen, findet man in den meisten Häusern eine." Er blickt zum flappenden Deckenventilator und rechnet. "500 muschas im Ganzen, schätze ich."



Nicht alle Juchitecas wissen sofort, welches ihrer Kinder eine muscha ist, Felicitas Mutter bemerkte Mädchenhaftes an ihrem Kind erst, als es fünf war. "Felicio spielte mit den Puppen seiner Schwestern" sagt sie. "Er kümmerte sich um, seine jüngeren Geschwister. Er imitierte mich, wo er konnte." Felicio wurde Felicia und wechselte zur Mutter ins Bett, der Vater zog in die Hängematte.



Durch Juchitán führt die führt die Panamericana, die Straße von Alaska nach Feuerland. Stundenhotels und Tankstellen säumen die schlaglöchrige Piste. Am späten Abend steht der Straßenrand voll mit Mehrachsern. Mexicanische Trucker übernachten gern in Juchitán. Zum Wochenende rückt auch Felicia aus, zusammen mit Marie José, die sich in einer Bar noch schnell die Brust aufpumpt mit Maisöl aus der Spritze, ein Zugeständnis an die Freier. Operationen und Hormone lehnen die muschas ab, sie sind erzogen als Frauen in Männerkörpern - als drittes Geschlecht.




Die Tochter zeigt Männerbein Erica liebt es freizügig: Sie zieht die blumenbestickte Tracht der Zapoteken nur an Feiertagen an. Die Mutter trägt sie täglich.

Felicia klopft an Autoscheiben. Das aufgetürmte blonde Haar macht sie noch größer. Auf dem freien, breiten Kreuz glänzt ein Schweißfilm. Zehn Dollar kostet eine "Verlobung" mit Felicia. Ins Fahrerhaus klettert sie nicht. Ein Hotelzimmer will sie, für zwei Stunden, eines mit Fernseher und Eiskübel fürs Bier. Ihr Trucker kommt aus Nordmexiko, klettert von seinem Sitz und legt dem seltsamen Geschöpf mit dem Fliedergeruch die Hand auf den Hintern. Da gehen sie ins flache "Santo Domingo Motel" auf der anderen Seite der Straße, der Macho einen Kopf kleiner und dennoch erhobenen Hauptes, denn in Mexiko gilt nur als schwul, wer sich bückt nicht wer penetriert.



In den Morgenstunden kriecht Felicia zurück ins Bett ihrer Mutter. Das verdiente Geld legt sie aufs Nachtkästchen mit dem Kruzifix und den Rosenkränzen. Die Mutter wird es einstecken wie eine Zuhälterin. Die Blätter der Geranienblüte, die sich gestern ins Haar gesteckt hatte, bleiben auf dem Kopfkissen verstreut liegen.



Felicia ist ein geliebtes Püppchen und eine Freundin für ihre Mutter. Ihre Altersvorsorge und ihre Erbin. Sie hängen voneinander ab, die Mutter und ihre Sohn-Tochter, auch ohne inzestuöses Verhältnis. Felicia sagt: "Ich würde meine Mutter für keinen Mann eintauschen." Die Frau, die sie zum Mädchen gemacht hat, richtet ihr das Frühstück. Dann legt sie stolz die Hand auf Felicias zerzaustes Haar und lächelt.



An der Wand über dem Bett hängen alte Fotos. Felicia mit 15 Jahren, schlanker und gesünder - und auch glücklicher.



Wenn José Angel und Vidal 15 Jahre alt sind, werden sie sich Angela und Vidalia nennen. Antonia, ihre Mutter wird das Unvermeidliche zulassen. Weil die "richtigen' Mädchen ihre Jungfräulichkeit eisern hüten, vergreifen sich die Männer von Juchitán an den muschas . Es wird passieren, auf dem Nachhauseweg vom Markt oder von einem Stadtbummel. Jemand wird ihnen auflauern und sich an ihnen vergehen, wahrscheinlich ohne Kondom. Wer denkt schon an Aids in Juchitán, wo sie die Kranken in ihren Hütten verstecken. Es wird ein ehemaliger Schulkamerad sein, ein Nachbar oder ein Freund, und José Angel und Vidal werden es ihm nicht richtig übel nehmen. "Manche Dinge sind, wie sie sind", sagen die Mütter.




Vom Sohn zur Tochter Als Vidal zur Welt kam, spürte die Mutter keine Schmerzen: Seitdem hält sie das zwölfjährige Kind für "auserwählt".

Die muscha Felina besitzt einen Friseursalon hinter Juchitáns faul riechendem Fischmarkt und spart auf ein eigenes Auto. Ihre Tage auf der Panamericana liegen hinter ihr. Sie ist 38. Felina hat versucht, Juchitán und der Liebe ihrer Mutter zu entkommen Als ihr einmal ein Trucker erzählte, dass in Mexico City Männer in Wohnungen zusammenleben, nahm sie den Nachtbus. Sie fand Arbeit in der Hauptstadt und eine kleine Wohnung und einen Freund.



Bald erhielt sie aber ein Telegramm von ihrer Mutter. Es sei Zeit, nach Hause zu kommen stand da. Der Arzt habe Diabetes festgestellt bei ihr. Felina fuhr am selben Tag zurück und pflegte die alte Frau vier Jahre lang.



Zwei Tage nach dem Tod der Mutter sitzt Felina im schwarzen Kleid in ihrem abgedunkelten Wohnzimmer tief im siebten Bezirk von Juchitán. Vor der Tür warten Frauen in Tracht. Sie tragen kleine Geschenke in ihren Händen, reich bestickte Decken, kunstvoll bemalte Schalen und Krüge. Felina empfängt sie. Die Frauen knien vor ihr nieder und küssen ihre Hand.



Als Letzter betritt Felinas Vater das Wohnzimmer. Unrasiert, das Gesicht aufgedunsen, steht er verloren in dem Raum mit dem sorgfältig gemachten Bett, in dem er so lange nicht geschlafen hat. Er starrt auf das in Gold gerahmte Bild seiner toten Frau auf dem einzigen Tisch, der heute mit Deckchen, Kruzifix und Blumen geschmückt ist wie ein Altar. Dann kniet er nieder und presst seine Lippen fest auf die Hand seines Sohnes in Frauenkleidern, der muscha dem neuen Oberhaupt der Familie, in dem der Geist seiner Frau nun weiterlebt.




Die Muscha tritt das Erbe an Felina trauert um ihre Mutter: Die Seele der Toten wird in ihr weiterleben, glauben die Zapoteken. Nun ist sie das Oberhaupt der Familie.

Mexiko sei ein Land voll lachender Kinder und trauriger Männer, schreibt der mexikanische Dichter Carlos Fuentes. Nicht weit von Haus heiratet der 18-jährige Louis, der Analphabet, der älteste Sohn Autonias. Seine Braut ist die 15-jährige Nachbarin, ein Kind, dessen Seele an seinem Festtag sackschwer wiegt. Das strahlend weiße Kleid der Braut verbirgt die dichte Wölbung. Der 18-jährige Louis hat sie geschwängert. Die Hochzeit muss retten, was zu retten ist. Die ungezählten Ohrfeigen, die Louis erhielt, als er seiner Mutter unter Tränen sein Missgeschick gestand, machten das Baby nicht mehr weg.



"Siebte Woche", sagte der Arzt, als Antonia die Freundin ihres Sohnes untersuchen ließ, "ein Junge." Und fügte hinzu: Bis zur Geburt jedenfalls."



Sie sind alle gekommen auf die Hochzeit. Felicia, José Maria, Mistica, Amaranta und viele mehr. Es bringt Glück, die muschas auf Feste einzuladen. Die Frauen tanzen, die muschas trinken. Eine Blaskapelle dröhnt. Vidal und José Angel geschminkt und mit frisch gewaschenem Haar, lehnen sich bald müde aneinander. Das Brautpaar kreist verloren über die ungeteerte Straße. Um Mitternacht endet die Feier. Die leeren Bierkisten stapeln sich bis unters Zeltdach. Die Männer schlafen an Ort und Stelle ein. Die letzte Zigarette, noch ein Schluck warmes corona . Dann wanken auch die muschas wieder nach Hause, zurück in die Betten ihrer Mütter.



Text: Michael Saur
Fotos: Shaul Schwarz
aus: FOCUS 5/2003




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